C. Huber: 150 Jahre Entomologischer Verein Bern 1858 – 2008

Titel
Die Ringe des Apollo. 150 Jahre Entomologischer Verein Bern 1858 – 2008


Autor(en)
Huber, Charles
Erschienen
Bern 2008: Naturhistorisches Museum der Burgergemeinde Bern
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Bernhard C. Schär

Entomologie heisst Insektenkunde. Es handelt sich um einen Teilbereich der Zoologie. Seit 1858 sind die Insektenkundler in Bern in einem Verein organisiert. Im Jahr 2008 hat ihr Vizepräsident, Charles Huber, zugleich Kurator am Naturhistorischen Museum der Burgergemeinde Bern, eine Jubiläumsschrift publiziert. Sie richtet sich primär an die Mitglieder des Vereins. Doch auch für historisch interessierte Aussenstehende kann sich die Lektüre lohnen. Denn die Geschichte der Insektenkundler ist auch Teil der Sozial- und Kulturgeschichte der Bernburger sowie des bernischen Bildungsbürgertums überhaupt. Und wenn man das Buch so liest, kann es als Ausgangspunkt für weitere wissenschaftsund kulturgeschichtliche Untersuchungen dienen.

Doch zunächst zum Inhalt: Das Buch handelt vom Verein und seinen Mitgliedern. Der Verein entstand im Kontext der disziplinären Ausdifferenzierung der Naturforschung, als sich nicht nur in Bern, sondern auch in anderen Städten regionale Entomologische Vereine bildeten. Sie schlossen sich zu einem schweizerischen Dachverein zusammen und bildeten gemeinsam eine Sektion der Naturforschenden Gesellschaft der Schweiz. Im spezifisch bernischen Kontext stellt der Entomologische Verein bis heute eine Art Bindeglied zwischen dem Naturhistorischen Museum der Burgergemeinde und diversen biologischen Wissenschaftsdisziplinen der Universität Bern dar. So gehörten dem Verein von Beginn weg Naturforscher, Museumskuratoren sowie interessierte Laien an. Über die 150 Jahre hinweg gesehen, war die Haupttätigkeit der Vereinsmitglieder das Sammeln und Bestimmen verschiedener Insektenarten.

Hervorzuheben ist Hubers reflektierter Umgang mit seiner Hauptquelle – den Vereinsprotokollen. Es handle sich, wie er im Vorwort schreibt, um eine besondere Textsorte, «weder literarisch noch poetisch», dafür aufgrund vieler vertrackter Sätze oftmals lustig. Sie dokumentieren nicht nur das Vereinsleben, sondern auch die Persönlichkeit des jeweiligen Vereinssekretärs. Huber nutzt diese Protokollsprache für eine liebevolle, augenzwinkernde Darstellung. Einer seiner Helden ist Anton Schmidlin, Vereinssekretär von 1928 bis 1954. Er brach sich 1936 auf der Jagd nach Schmetterlingen im Simplongebiet derart unglücklich sein Bein, dass es amputiert werden musste. In der Folge widmete er sich der Schreibtischarbeit. Er fertigte bis zu 12-seitige Sitzungsprotokolle an. Was für den Vereinshistoriker Huber Gold Wert ist, war für die Zeitgenossen hingegen eine Geduldsprobe, da Schmidlin die Protokolle jeweils «mit berüchtigt monotoner Stimme vorlas!» Schmidlin war auch Autor eines «Tausende von Schreibmaschinenseiten» umfassenden Manuskripts über die Schmetterlinge des Kantons Bern («Lepidoptera Bernensis»), das jedoch unvollendet blieb. Es genügte Schmidlins perfektionistischen Erwartungen nicht. Dafür hielt Schmidlin 67 abendfüllende Vorträge, an denen er seinen Vereinsfreunden bis zu 143 Lichtbilder zumutete. In einem Protokollauszug, den Huber kommentarlos zitiert, heisst es dazu: «Der Vortrag, der 2 1/2 Stunden dauerte, wird vom Präsidenten verdankt. Eine Diskussion ist in Anbetracht der vorgerückten Stunde nicht mehr möglich.»

Kritisch lässt sich an dieser Stelle einwenden, dass Lesende ohne entomologische Bildung die Tätigkeit der Vereinsmitglieder – es waren im Verlauf der 150 Jahre fast nur Männer – fremd bleibt. Schmidlin verlor sein Bein, ein anderes Mitglied trieb die entomologische Leidenschaft fast in den finanziellen Ruin. Wie kommt es, dass bildungsbürgerliche und burgerliche Männer ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine solche Leidens- und Aufopferungsbereitschaft für Insekten entwickelten? Huber lässt die Frage offen, da er seiner Leserschaft vermutlich auch nicht erklären muss, weshalb Insektenkunde Spass macht. Ungewollt riskiert er damit jedoch bei Aussenstehenden eine gewisse «Kehlmannisierung » der bernischen Insektenkundler. Der deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann hat mit seinem Bestseller Die Vermessung der Welt das Bild von Naturforschern als kauzigen, pedantischen Sonderlingen geprägt, die alles ausmessen und sammeln, was ihnen in die Finger kommt. Wenn man liest, dass die Berner Insektenkundler durchschnittlich 25 000 Insekten pro Kopf gesammelt haben, was total 1,5 Millionen Insekten macht, die heute das Gros der Insektensammlung des Naturhistorischen Museums bilden, denkt man unweigerlich an Kehlmann. Für künftige wissenschaftsgeschichtliche Analysen wird es daher darum gehen, den sozialen und kulturellen Sinn der Insektensammlerei im Kontext der männlich dominierten bürgerlichen Kultur zu erklären, in der sie sich entfaltete. Hierzu dürfte auch der imperiale Kontext stärker berücksichtigt werden. So hat jüngst etwa der Basler Afrikahistoriker Patrick Harries gezeigt, wie wichtig die Forschung von Westschweizer Missionaren, die in Afrika auch Insektenkunde betrieben, nicht nur für die Geschichte des schweizerischen Wissenschaftsstandortes, sondern generell für die Kultur der Schweiz um 1900 war. Dass die Entomologie sowie generell die Naturforschung in Bern Teil dieser Geschichte war, lässt sich in Hubers Buch verschiedentlich ersehen. So stammt ein wichtiger Teil der Insektensammlung aus Brasilien. Etliche Mitglieder forschten im (kolonialen) Ausland. Daher «kreuchen und fleuchen», so Huber, «heute mindestens 176 Gliedertierarten mit ‹Berner› Namen auf der Erdkugel! » Aufschlussreich sind auch die präsentierten Lebensläufe, die, wenn man weiter recherchiert, interessante Perspektiven eröffnen. Der für Bern wichtige Zoologe Theophil Studer entpuppt sich etwa nicht nur als Entomologe, sondern auch als Autor rassenkundlicher Studien über Berner Schulkinder aus dem Jahr 1880. Für die Wissenschaftsgeschichte bietet Hubers unterhaltsam geschriebenes und empirisch reichhaltiges Buch folglich ein Ausgangspunkt für zahlreiche weiterführende Fragestellungen.

Zitierweise:
Bernhard C. Schär: Rezension zu: Huber, Charles: Die Ringe des Apollo. 150 Jahre Entomologischer Verein Bern 1858 – 2008. Bern: Naturhistorisches Museum der Burgergemeinde Bern 2008. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 3, Bern 2010, S. 52-54.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 3, Bern 2010, S. 52-54.

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